Der Ende 2011 ausgelaufene Programmbereich 5 "Inkrementeller Aufbau syntaktischer und (diskurs-) semantischer Repräsentationen" beschäftigte sich mit 2 Teilbereichen: A) L(inks)R(echts)-inkrementelle Grammatikformalismen und B) lineare Effekte bei der Auszeichung von Satztyp, Satzmodus und Illokution in der Satzperipherie.
Zentrale Arbeiten in Bereich A waren (i) eine Grundlagenstudie zur Implementierung der "Cluster-Analyse" multipler Konstituentenfragen (Grewendorf 2001; Sabel 2001) im Rahmen von Stablers "minimalistischen Grammatiken" (Gärtner and Michaelis 2010b; to appear). (ii) Eine Vertiefung der Vorwärtskompositionsanalyse von Negationsskopuserweiterung im Englischen (Blaszczak and Gärtner 2005) im Rahmen von Steedmans "Kombinatorischer Kategorialgrammatik" (CCG) (Gärtner to appear-b). Sowie (iii) eine formalsemantische Dialoganalyse im Rahmen der "Logischen Diskursgrammatik" von Noor van Leusen (2007) (van Leusen 2009).
Neben Arbeiten zum Verständnis des Assertionsbegriffs bei der Analyse von Verbzweit-Deklarativsätzen unter Disjunktion (Gärtner and Michaelis 2010a) und der Anlyse quotativ-evidentialer Verwendungen des Hilfsverbs wollen (Gärtner to appear-a) wurden im Bereich B zwei wichtige Studien angefertigt:
(i) Eine umfassende typologische Arbeit zur komplementären Verteilung von Sprachen mit einbettbaren nicht-finiten Interrogativsätzen und Sprachen mit "robuster" Ambiguität von Indefinit- und Interrgativpronomen (Gärtner 2009a). Hier wurde für das Deutsche die Hypothese aufgestellt, dass die besagte Ambiguität gemeinsam mit der OV-Eigenschaft eine hinreichend eindeutige Satztypauszeichung der linken Peripherie von "W-Infinitiven" blockieren. Dies wurde als (partielle) Erklärung der Abwesenheit einer Frageinterpretation des Nebensatzes in Formen wie Er überlegte sich, wen an*(zu)rufen vorgeschlagen.
(ii) Eine Untersuchung der spaltsatzartigen no-Konstruktion im Madagassischen (Gärtner 2009b). Dabei wurde der Vorschlag von Matthew Pearson, diese Konstruktion parataktisch zu analysieren, im Rahmen einer Ereignissemantik formalisiert und kritisiert. Es konnte gezeigt werden, dass, obwohl eine parataktische Analyse Vorteile bei der Analyse von Quantoren in "Spaltposition" besitzt und die Variabilität von Adverbplatzierung voraussagt, so eine Analyse substantielle Schwächen bei der Behandlung von Bewegungslokalität und Bindungsverhalten aufweist. Die Theorie wurde deshalb verworfen. Stattdessen wurde auf Grundlage informationsstruktureller Fakten für eine monoklausale, der deutschen Vorfeldbesetzung angenäherte, Voranstellungsanalyse plädiert.
Eine experimentelle Studie zum von Bach & Zaefferer (2010) diagnostizierten Unterschied zwischen vorwärtstypisierenden − Satztypmarkierung in der linken Peripherie − und rückwärtstypisierenden − Satztypmarkierung in der linken Peripherie − Sprachen wurde im Jahr 2011 von Kazuko Yatsushiro (unter Mitarbeit von Eva-Maria Saur) vorbereitet. Hier soll für das Japanische die Gewichtung von satzeinleitenden Markierungen und Satzendpartikeln beim Illokutionsverständnis getestet werden. Methodisch handelt es sich um ein Reaktionszeitexperiment, das die Kongruenz von verbaler und bildlicher Information bei Variation interrogativischer und deklarativer Stimuli überprüft. Die Durchführung des Experiments ist für Anfang 2012 vorgesehen.
Literatur:
Sprechen und Verstehen findet in Echtzeit statt. Psycholinguistische Studien und computerlinguistische Modellierungen gehen zudem davon aus, dass diese Prozesse inkrementell ablaufen, d.h. einige sprachliche Bausteine werden bereits ausgesprochen, während andere noch in der Planung sind, und sie werden auch schon interpretiert, bevor die vollständige Äußerung vorliegt.
Die sprachliche Kompetenz, die diesen Prozessen zugrundeliegt, wird normalerweise als Grammatik bezeichnet und die bisher erfolgreichsten Grammatiktheorien abstrahieren von der zeitlich-inkrementellen Dimension. Das hat dazu geführt, dass sich die Annahmen über sprachliche Strukturen und ihre Interpretation in Psycho- und Computerlinguistik oft deutlich von denen in der Grammatiktheorie unterscheiden.
Unser Interesse gilt nun neueren Versuchen, diese Kluft dadurch zu überbrücken, dass auch die Grammatiktheorie mit einer inkrementellen Komponente ausgestattet wird. Inspiriert ist dies vor allem durch Erfolge in der dynamischen Semantik (Kamp) bei der Behandlung anaphorischer Bezüge. Hierbei ist nämlich die zeitliche Abfolge von Bedeutung, wie der Unterschied bei der Auflösung des Pronomens er in (a) und (b) zeigt:
a. Ein Mann ging durch den Park. Er pfiff ein Lied.
b. Er ging durch den Park. Ein Mann pfiff ein Lied.
Eine zweite Inspirationsquelle sind Abfolgeasymmetrien (Kayne), wie sie z. B. bei der Fragesatzbildung auftreten. Wenn nämlich hierbei Fragewörter an den Satzrand umgestellt werden müssen, so betrifft dies in den meisten bekannten Sprachen den Satzanfang, wie in (c) und (d) für das Deutsche gezeigt.
c. Ich habe einen Kollegen getroffen.
d. Wen hast Du getroffen?
Ziel unserer Arbeit ist einerseits, mit formal-theoretischen Mitteln die gegenwärtig noch sehr heterogenen und programmatischen Ansätze inkrementeller Grammatiktheorien zu analysieren, zu vereinheitlichen und zu verbessern. Andererseits werden wir ihre Leistungsfähigkeit empirisch überprüfen, indem wir sprachvergleichend die Form und Funktion von Satzrändern bei der Auszeichnung von Satztypen (Frage-, Aussage-, Befehlssatz) untersuchen. Besonders relevant ist hier der Vergleich von germanischen Sprachen, wo der Satzanfang, wie oben gesehen, besonders wichtig erscheint, und asiatischen Sprachen wie Japanisch und Koreanisch, wo Partikel zur Anzeige des Satztyps am Satzende auftauchen.